Unberechenbarer Überschuss
Katrin Bettina Müller über die Arbeiten von Anja Billing
Im Moment des Schocks, so sagt man, zieht das Leben wie ein Film vorüber. Für einige Augenblicke bricht dann die Zeit auseinander und innere und äußere Wahrnehmung laufen in verschiedenen Geschwindigkeiten nebeneinander her. Die Bilder, die von außen kommen, verlangsamen sich, im Inneren setzt dagegen eine Beschleunigung an und drängt das Leben zusammen. Der Rhythmus ist asynchron geworden. In den Bildern von Anja Billing finden solche Momente der Verschiebung allein in der Farbe statt. Etwas bewegt sich rasend schnell, in formverschleifenden Schlingen und Kringeln pulst Energie; und etwas zweites dagegen dehnt sich sehr langsam aus, fließt träge dahin, fast bis zum Stillstand. Abstrakt in dem Sinne, dass sie nichts Gegenständliches darstellen und keinen Referenten außerhalb der Malerei bezeichnen, sind meistens beide Ebenen. Aber dennoch verhalten sie sich zueinander wie Motiv und Grund, Figur und Raum.
Schwere und Leichtigkeit, offene und besetzte Zonen, Geschwindigkeit und Trägheit, Beschleunigung und Verlangsamung, Dichte und Durchlässigkeit, fließende Bänder und schwebende Strukturen, nach vorne kommen und zurücktreten, Druck machen und locker lassen, aufsteigen und fallen, verwirrt werden und ordnen, etwas überblicken können und von etwas geblendet werden, sich in verschwenderischem Überfluss aalen und mit etwas knapp gehalten werden: All dies sind kontrastierende Zustände und Befindlichkeiten, von denen die Bilder von Anja Billing widerhallen. Ihre Herkunft aber speist sich aus doppelten Quellen. Denn zum einen stammen diese Empfindungen und Bewegungen aus der Welt der körperlichen Erfahrungen und des sozialen Verhaltens; mit ihnen ließe sich beschreiben, wie man einen Raum betritt, einen Tag anfängt, in einer Stadt ankommt, einer Gruppe begegnet, Position bezieht, Beziehungen eingeht. Zum anderen sind es Prozesse, die sich im Akt des Malens selbst entwickeln.
Sie sind nicht auf einen Plan zurückzuführen, der dem Bild vorausgegangen wäre, wie etwa das Vorhaben für dieses oder jenes Gefühl einen Ausdruck zu suchen. Aber im Moment ihrer Entstehung auf dem Bildgrund docken durch die Augen und Hände der Malerin Erinnerungen daran an, die in ihrem Gedächtnis und Körper gespeichert sind. Die Bilder brauchen Zeit. Sie brauchen Zeit für ihre Entstehung, das ist klar, aber vor allem auch Zeit, um gesehen zu werden; um den Augen einen Weg über die Fläche zu bahnen, um Verhältnisse wahrzunehmen, um in die Tiefe zu dringen und wieder aufzutauchen, um zwischen den Bildern Beziehungen zu finden, um im Vergleich die verschiedenen Spannungen, Temperaturen, Intensitäten zu spüren. Denn erst im Sehen selbst stellt sich allmählich das Vermögen her, ihre Differenzierungen zu erkennen.
Manchmal lassen sich in den Bildern von Anja Billing aus den letzten Jahren Figuren oder Gegenstände benennen. Der Ereignisreichtum ihrer Malerei aber ist von solchen Zuordnungen nicht abhängig. Auf mehreren Ebenen sind Bewegungen und Entstehungsprozesse ihr Thema. Eine dieser Erzählungen hat den Malprozess selbst zum Inhalt und handelt von der Farbe als Materie, die schlierig und ölig, zäh manchmal und manchmal flüssig, teils glänzend und hart, teils dünn und trocken wie Staub ein Gegenüber bildet. Die Farben sind modellierbar, sie sind nachgiebig und widerständig, verführerisch und fordernd. In ihre Kombination, in ihre Mischung und ihre Spannung sind sehr viel mehr Regeln eingeflossen, als es die freien und ungebundenen Formen vermuten lassen. Die Farben kommen nicht aus dem Nichts. Sie sind gewählt und gesucht auf dem Hintergrund einer langen Geschichte von Malerei, in der Paul Cézanne, Francis Bacon und Gerhard Richter für die Malerin Anja Billing wichtige Positionen besetzen.
Auf einer anderen Ebene findet zwischen der alltäglichen Erfahrung des Lebens und der Malerei von Anja Billing eine Osmose statt, eine Transformation der Energie. Man könnte diese Verwandlung von Leben in Malerei mit der vergleichen, die durch chemische Reaktionen in unserem Körper, durch Produktion und Ausschüttung bestimmter Hormone, von Botenstoffen und Rezeptoren Gefühle wie Glück, Reue, Scham und Angst auslöst. Die Codes der Chemie versuchen in berechenbare Einheiten zu zerlegen, was sich in der Erfahrung gerade dadurch auszeichnet, nicht messbar und quantifizierbar zu sein. Das eine System der Beschreibung birgt nicht weniger Wahrheit als das andere; beide aber dienen ganz unterschiedlichen Zwecken. In der Pharmazie geht es um Kontrolle und Ökonomisierung der Empfindungen; sie in jenem Maß zu regulieren, das am wenigsten als Störung im reibungslosen Ablauf des Alltags auffällt. Die Malerei von Anja Billing dagegen beharrt auf dem Unberechenbaren, dem Mehr, das in den rationalen Systemen nicht aufgeht, dem Eigensinn. Ihre Kunst markiert den Überschuss, eine inkommensurable Energie-Ausschüttung, die in keine anderen Einheiten oder Währungen umzurechnen ist. Mit Kunst kann man zwar handeln, aber das allein macht ihren Gehalt noch lange nicht aus. Eine Bildsprache wie die von Anja Billing betont gerade das, was nicht kapitalisierbar ist an ihrer Ästhetik.
Ein weitere Möglichkeit, Anja Billings Bilder zu lesen, beschäftigt sich mit dem Raum. Räumliche Ordnungen haben immer auch unsere Vorstellungen von metaphysischen Ordnungen geprägt. So war der zentralperspektivische Raum nicht nur Illusionsraum der Kunst sondern visuelle Metapher hierarchischer Ordnungen. Neben ihn hat sich in der Kunst und in den Denkräumen der egalitäre Raum etabliert, das demokratische Allover, in dem jeder Punkt gleich viel zählt. Zu den Modellen jüngster Zeit gehören die Netzwerke, in denen jeder Punkt nur in seiner Beziehung zu anderen darstellbar ist, und der virtuelle Raum. Anja Billing verfolgt in diesem Zusammenhang die Frage, wohin hat sich der Horizont, der zugleich die Grenzlinie eines optischen und eines geistigen Erfahrungsraumes meinte, verschoben. Einen Horizont zu haben, bedeutete noch Vertrauen in einen gewissen Zusammenhalt der Kultur zu haben, ihre Wertmaßstäbe aus ihrer Geschichte begründen zu können. Die günstigste These wäre, dass Vernetzung und Globalisierung diesen geistigen Raum unermesslich geweitet haben und der Horizont unseres Verstehens dauernd wächst. Dem steht aber die tägliche Erfahrung entgegen, zwar immer mehr aus unterschiedlichen Welten zu erfahren, aber in der Hauptsache immer mehr von unlesbaren Problemen. Die ungünstigste These meint deshalb, dass der geistige Raum zerrissen wird und zerfällt und keine verlässlichen Kategorien mehr für Entscheidungen bietet. Die Linie des Horizonts zerreißt und kann den Raum nicht mehr zusammenhalten. Es wäre etwas zu kurz gegriffen zu behaupten, dass dies ein Thema in der Malerei von Anja Billing sei. Aber die Haltung, die sie in ihren Bildern zum Bildraum und seiner langen Vorgeschichte einnimmt, ist nicht allein von bildimmanenter Bedeutung. Sie erfährt durch die theoretische Arbeit am Modell des Raumes immer wieder eine Aktualisierung.
Anja Billing selbst hat das Verhältnis zwischen dem Innen der Bilder und dem Außen so formuliert: Ò Mir scheint, dass abstrakte Malerei nur dann eine innere Logik besitzt, wenn sie die Lust und die Liebe des Künstlers an der irrealen Welt spiegelt, wobei diese irreale Welt ja auch eine Kategorie des Nichtfassbaren, des Unsichtbaren in sich trägt und dies etwas ist, was auch jeder Mensch spürt. Eine Liebeserklärung an die reale Welt sind Billings Bilder nicht zuletzt durch ihre sinnliche Pracht. Sie werden selbst zu Gegenständen der realen Welt, an denen die Sinne etwas Neues erfahren können. Sie alle handeln von der Lust am Sehen und einem Erfahrungshunger, der sich mit jedem Bild weiter in eine Terra Incognita vorwagt.