Malerei als Fügung
Dr. Tobias Wall über die Werkreihe Clocks and Clouds
Bis heute ist nicht endgültig geklärt, wer nun das erste gegenstandslose Bild geschaffen hat. War es wirklich Wassily Kandinsky mit seinem berühmten Aquarell "ohne Titel", das er angeblich 1910 geschaffen hat, oder etwa doch Kasimir Malewich mit seinen ersten suprematischen Bildern von 1912? Eine Lösung dieses Streits ist auch in Zukunft nicht zu erwarten und im Grunde ist es auch gleichgültig, wer genau der erste "Gegenstandslose" war. Interessant jedoch ist die Tatsache, dass der Kampf um diese künstlerische Pionierposition unter den Künstlern und später den Kunstwissenschaftlern so verbissen geführt wurde. Daran lässt sich erkennen, wie außerordentlich bedeutend der Schritt in die Gegenstandslosigkeit für die Kunst- und Kulturgeschichte war und ist. Mit der Gegenstandslosigkeit wurde ein völlig neuartiges künstlerisches Territorium erschlossen, in dem die Kreativität sich in bis dahin unbekannter Freiheit entwickeln und entfalten konnte. Aus Farben, Linien und Formen konnten unabhängig vom Diktat des Dinges2 völlig eigenständige, wie manche Künstler sogar meinten, absolute, ästhetische Welten geschaffen werden. Im Laufe des 20. Jahrhunderts haben sich Gegenständlichkeit und Gegenstandslosigkeit in verschiedener Hinsicht einander angenähert, dennoch sind es zwei Bereiche geblieben, in denen jeweils unterschiedliche gestalterische Regeln und Zielsetzungen im Vordergrund stehen. Auf der gegenständlichen Seite der Fokus auf das Identifizierbare oder Assoziierbare, das Deskriptive, Epische oder explizit Poetische und auf der ungegenständlichen Seite die formale Freiheit, das Primat der Farbe und der absoluten Komposition, die totale Unabhängigkeit von inhaltlichen Referenzpunkten. Vor diesem Hintergrund entwickelte jede dieser künstlerischen Richtungen Gestaltungs- und Ausdrucksmöglichkeiten, die den Charakter ihrer jeweiligen sinnlichen Konstrukte und deren Wirkung auf den Betrachter und dessen Resonanz entscheidend prägen.
Wo nun lässt sich die Arbeit von Clemens Schneider einordnen? Ist sie gegenständlich oder ungegenständlich, sind seine großformatigen Gemälde freie Farbkompositionen oder Darstellungen fiktiver kosmischer Räume und Landschaften? Die Antwort ist: Sie sind keines von beiden. Clemens Schneiders Werk bewegt sich im übergangslosen Bereich zwischen Gegenstand und Gegenstandslosigkeit. Obwohl Clemens Schneider bei seiner Malerei sich nicht von konkreten Motiven anleiten lässt, meint man doch Anklänge von Gegenständen, Räumen und Landschaften in seinen Gemälden zu erahnen. Diese Gegenstandsphantome sind allerdings nicht eigentlich intendiert, sie entstehen eher von selbst in seinen Bildern. Es ist eine Art Schwebezustand zwischen Ding und Freiheit, die der Künstler in seiner Kunst sucht, ein Zustand, den er nur erreicht, indem er beim Malvorgang ein Gleichgewicht aus Zufall und gestalterischer Führung findet. Hierfür bedient er sich einer besonderen künstlerischen Methode: Das Bild entsteht nicht nach dem festgelegten Gestaltungswillen des Künstlers, es fügt sich unter seinen Händen.
Clemens Schneider beginnt seine Werke oft im Zentrum einer Leinwand mit freien, gestischen Farbspuren, die er zu den Rändern des Bildes hin sich ausbreiten lässt. Eine Farbschicht folgt auf die nächste, wobei die folgende Farbe sich aus der Tönung der vorhergehenden ergibt. Das Bild baut sich so quasi von selbst auf, der Künstler ist nur Vollstrecker des Willens der Farbe. Mit Hilfe dichter Pinsel führt er die verschiedenen Farbtönungen dann ineinander, schafft sanfte Sfumati; aus Flecken werden Nebel, aus Flächen werden Räume. Durch verschiedene Helligkeiten und Formenelemente entstehen nach und nach Rhythmen, Emphasen, Richtungen. Wo sich solche Strukturen ergeben, greift Schneider formend und gestaltend ein. Er moderiert zwischen den frei fließenden Formen, konkretisiert, unterstreicht, nimmt zurück und führt die Farben und Bildelemente auf diese Weise ganz behutsam einer Komposition zu. Er schiebt sie "hin und her", wie er sagt, "bis sie in ein Gleichgewicht kommen und eine Stimmung entsteht".
Hierbei entstehen Räume, Wände, Flächen, nebulöse Verdichtungen, die in der Tat wie gegenständliche Andeutungen wirken, wie kosmische Welten oder Wolkenformationen, in denen man manchmal sogar Gesichter und Körper zu erkennen glaubt. Doch es lässt sich nicht entscheiden, ob sie wirklich im Bild angelegt sind oder ob sie vom Betrachter auf der Suche nach Bekanntem und Vertrautem hineingelegt werden. Clemens Schneider würde sich nie auf eine bestimmte gegenständliche Deutung festlegen lassen; alles was man in seinen Bildern sieht, sind Erscheinungen, die so oder ganz anders hätten sein können. Alles ist im Fluss. So erklärt es sich auch, dass Clemens Schneiders Bilder im Grunde nie fertig sind. Das Bild stellt immer wieder neue Forderungen, es ist unersättlich, der Künstler könnte ewig an einem Gemälde weiter schaffen. Dieses Bild würde dann freilich unendlich groß werden. Die Grenzen der Leinwand sind bei Schneiders Werken purer Zufall, Tribut an die Endlichkeit und das technisch Machbare. Da es die grenzenlose Leinwand nicht gibt, muss der Künstler immer neue Bilder beginnen; im Grunde jedoch malt er an einem einzigen Gemälde, wenn auch in vielen einzelnen Schritten. Clemens Schneider strebt in seinen Bildern eine Situation an, die vergleichbar ist mit denen, die sich bei den Klängen bestimmter zeitgenössischer Kompositionen einstellen. Hier in der zeitgenössischen Musik, d.h. außerhalb des visuellen Systems, findet er die wichtigsten Anleitungen für seine malerischen Prozesse. Musik begleitet Clemens Schneider bei jedem seiner Bilder, Kompositionen von Morton Feldman, John Cage und Györgi Ligeti, dessen Stück "Clocks and Clouds" auch der Werkreihe, die in diesem Katalog versammelt ist, ihren Namen gegeben hat.
So bewegt sich Clemens Schneider mit seiner Kunst im Zwischenbereich zwischen Gegenständlichkeit und Ungegenständlichkeit, jenseits der Schlachtfelder kunstgeschichtlicher Ideologen, weder an die Strenge einer Komposition noch an die Vorgaben eines konkreten Inhalts gebunden, allein begleitet von der Musik.
Clemens Schneider: Kein autoritärer Gestalter, sondern ein sensibler Moderator der Farben.
Malerei als Fügung,