Materie und Substanz
Ein Blick auf Friedemann Grieshabers Skulpturen
, Matthias Flügge, Februar 2009
Die erste Begegnung mit Friedemann Grieshabers Arbeiten hatte ich in seiner Werkstatt, an deren Ursprung, nicht wie üblich in einer Ausstellung. Ein verschachtelter Raum auf einem Gewerbehof in der Berliner Innenstadt, zart von Zementstaub überpudert und angefüllt mit Skulpturen, hölzernen Gußformen und Zeichnungen. Ein Arbeitsort, an dem die Prozeduren, die den Werken zugrunde liegen, gleichsam sinnfällig werden, die Art ihrer Entstehung sich ebenso mitteilt wie der Zusammenhang, der zwischen ihnen besteht: den klaren, auf subtilste Einfachheit zielenden, kleinen Häusern und plastischen Stadtsilhouetten mit den teils überlebensgroßen Archifiguren, den im Wortsinn aus Räumen – positiven wie negativen – gebauten Figurationen. Man spürte die Bedachtsamkeit, mit der hier sowohl die Reduktion wie die Opulenz des Zusammenspiels der Formen entwickelt, Statik und Dynamik in ein Gleichgewicht gebracht werden. Friedemann Grieshaber ist ein nachdenklicher Künstler, einer, der genau reflektiert und weiß, was er tut. Er läßt dem Besucher die Zeit, in die Baustelle vorzudringen. Die Zeit, die er sich selbst für die Arbeit nimmt, soll sich in dem wiederfinden, der sie betrachtet.
„Plastik ist stets die Interpretation der Materie durch die Substanz, weil ihre Verwandlung in sie“, hat Klaus Demus in der Einleitung zu Elias Canettis Buch über Fritz Wotruba 1955 geschrieben. „Plastik kann direkter nicht gedacht werden als in der Gestaltklarheit harter, lauterer Substanz. Steht diese Idee in einer Zeit, der die Möglichkeit, das Glück zur Klassik fehlt, aber ein neuerfahrener Reichtum bloßgelegter innerkünstlerischer Mechanismen zu Gebot ist, dann schlägt sich stellvertretend die Vorstellung des Elementaren, Puren, urtümlich Unmittelbaren vor.“ In den mehr als fünfzig Jahren, die seit diesen Bemerkungen vergangen sind, haben sie eine neue Bedeutung gewonnen. Der „Reichtum innerkünstlerischer Mechanismen“ zeigt sich enorm vergrößert, der Skulpturbegriff ins Unfaßliche erweitert, die Möglichkeit zur Klassik undenkbarer denn je. Aber der Hang zum Elementaren wird in Krisenzeiten stärker. In der Kunst gibt das Sinn, wenn ein historisches Fundament gegeben ist, auf dem ein solches Werk gebaut ist.
Friedemann Grieshabers plastische Ideen wurzeln in ägyptischer Skulptur ebenso wie in den Erfahrungen der konstruktiven Moderne. Seine Wiedergewinnung tektonischer Grundlagen des Plastischen und das Vergewissern ihrer Herkunft aus der Architektur geschehen in genauer Kenntnis kunstgeschichtlicher Entwicklungen. Hegel beschreibt die griechische Rezeption der Ägypter als „künstlerische Behandlungsweise durch die Kunstgeschichte“ und meint damit, daß in jede Formadaption deren Rezeptionsgeschichte eingeschrieben ist. Dabei weiß er, daß das kein linear zu denkender Vorgang ist sondern ein Geflecht, in dem der Künstler seinen Ort immer neu bestimmen muß. Grieshabers Orte sind „Orte der Langsamkeit“, wie er sie nennt. An ihnen werden die Energien sichtbar und fühlbar, die sich im Wechselspiel von physischen und mentalen Räumen entfalten. Archetypen des Kultischen scheinen darin immer wieder auf. Man kann das als eine zeitgenössische Vergewisserung unserer Kultur und ihrer Herkunft verstehen, früher hat der Künstler weite Reisen unternommen, um deren Ausgangsorte zu studieren.
Wo die Formen nicht mehr zu erweitern sind, geht es um Vertiefung, nicht um die Variation von Vorgefundenem sondern um das Erkunden unbekannter Möglichkeiten des vermeintlich Bekannten. Das ist kein postmodernes Glasperlenspiel mit den Verfügbarkeiten. Es ist das, was der Kunst bleibt, will sie sich erneuern, ohne gänzlich zu verschwinden in der Sichtbarkeits-Kultur oder schlicht in der Inflation der nichtssagenden Bilder. Philip Guston, der seine späten Bilder nach ähnlichen Prinzipien baute, hat bemerkt: „Das, was wir sehen, geht nicht aus dem hervor, was sichtbar ist.“ Diese Haltung ist weitaus bescheidener als Paul Klees fragwürdig auftrumpfendes Diktum: „Kunst macht sichtbar.“ Und sie trifft Grieshabers Skulpturen genau. Sie akzeptiert einen Raum zwischen dem Sichtbaren und dem, was wir sehen. Dieser Raum ist es, der die Skulpturen konstituiert, und in dem die Verwandlung des Materials in Substanz geschieht.
Dabei weiß Friedemann Grieshaber die Intelligenz des Konzeptuellen mit elementar sinnlicher Erfahrung in Einklang zu bringen. Seine Themen sind die Verschwisterungen von Figur und Architektur, die Behausung der einen in der anderen, der Raum als Gegebenes und Gestaltetes, manchmal auch die Landschaft und darin das Haus oder die Stadt. Seine Landschaften – die gebauten wie die gezeichneten – nennt er „Kulturlandschaften“ und verweist damit auf die Tatsache, daß das, was wir Natur nennen, nichts objektiv Vorhandenes ist, sondern vor allem ein Konstrukt unserer kulturell bestimmten Wahrnehmung. Dieser Gedanke ist auch in Skulpturen lebendig. Innen und Außen, Durchbrüche, vertrackt irritierende Perspektiven, kunsthistorisch gesicherte Topoi, schaffen die räumlichen Bedingungen, unter denen Figur gleichsam als Archetyp des Menschen und der Architektur als dessen erster Kulturleistung ineinander aufgehen. Manchmal treibt Grieshaber diese Dualität so weit, daß man im Atelier meint, man stünde in einem Lapidarium totemistischer Gebilde. Dann fallen die Verweisbegriffe Archaik, Osterinsel oder Ägypten. Aber sie treffen nur insoweit zu, als aus Skulpturen, wenn Raum und Ort in Einklang stehen, Reflexe ihrer archaisch-magischen Qualitäten in der Gegenwart abgeben können. Grieshaber weiß das und rechnet damit, aber er ist kein Archäologe des Auratischen. Was er die „Figuration der Gegenwart“ nennt, ist zuerst Konstruktion, Bau, Materialität in einem geistigen Zusammenspiel. Das Material bestimmt die Form. Die Vorstellung, das Material könne gleichsam ideell „überwunden“ werden, ist diesem Künstler fremd. Das Schwere bleibt schwer, das Leichte leicht. In dieser Arbeit ist nichts spröde, gleichförmig, abweisend oder undurchdringlich – Eigenschaften, die unser alltagsgeplagter Blick dem Beton nicht ganz zu Unrecht zuschreibt. Selbst die stumpfe, graue von Lufteinschlüssen und Zementschlieren durchwirkten Oberflächen des industriellen Bauwerkstoffs erscheinen irgendwie lebendig. Grieshaber kann das Haptische mit dem Optischen versöhnen, den „glatten“ mit dem „gekerbten“ Raum, das Unvollkommene mit dem Idealen, die einfache Berührung mit der Wahrnehmung einer komplizierten Raumbeziehung.
Seine architektonisch gebauten Stelen und Reliefs strahlen die Würde der konstruktiven Moderne, den Anschein von Dauer aus und wirken doch zerbrechlich, weil das Figurative immer das Moment der Vergänglichkeit in sich trägt. Grieshabers Skulpturen – oder sollte man sie vielleicht doch besser Plastiken nennen? – haben eine philosophische Dimension: Haus und Gehäuse, der Mensch darin und darum, Gebautsein und organisches Wachsen, die Gleichzeitigkeit von Innen und Außen verweisen auf die Frage, wie wir uns noch einrichten können in der Kultur, die wir uns geschaffen haben. Wie die Härte, die Erstarrung zu überwinden seien. Grieshabers scheinbarer Minimalismus bedarf dafür nur weniger, sich wiederholender, immer wieder neu gedeuteter Zeichen. Seine Kunst hat ein Ethos. Im Altgriechischen meinte dieses Wort: Weideland, Wohnort.