Tesfaye Urgessa
Tesfaye Urgessa kam 2009 aus Addis Abeba, Äthiopien nach Deutschland. Nicht als Flüchtling, sondern mit einem Stipendium des Deutschen Akademischen Auslanddienstes und mit der Zusage für einen Studienplatz an der Akademie der Bildenden Künste Stuttgart. Er ist 1983 in Addis Abeba geboren und hatte dort von 2002 bis 2006 an der University School of Fine Arts and Design Addis Abeba Kunst studiert. Nach seinem Studienabschluss bekommt er dort eine Stelle als Dozent. Aber er will mehr, ein Studium in den USA. Aber es wird Deutschland. Inzwischen lebt und arbeitet er in Nürtingen und hat dort einen Lehrauftrag an der Freien Kunstschule. Vor drei Jahren erhielt Tesfaye Urgessa den Akademiepreis der Kunstakademie Stuttgart. Vor zwei Jahren schaffte er es ins Finale des Wettbewerbs der Kunststudenten der Bundeskunsthalle Bonn. Seine Werke sind hochgelobt und er kann von seinen Arbeiten leben.
Tesfaye Urgessa zeigt in seinen Bildern mit expressiver Wucht die Verletzlichkeiten der menschlichen Seele. Wie verlorene Wesen zeigen sich uns die deformierten Körper in ihrer Unsicherheit, jedoch auch in ihrer Würde. Seine Figuren will er in undefinierbaren Körperbewegungen halten und von jeglicher Erzählung trennen. Eigenwillige Perspektiven und oft ins Surreale und Rätselhafte kippende Räume sind häufige Gestaltungsmittel. Eigene Erfahrungen fließen in seine sehr starke und eigenständige Malerei mit ein. Tesfaye Urgessa zu seinen Bildern: „Ich möchte meine Gemälde von jeglicher Erzählung trennen. Vielleicht lässt sich das mit einer abenteuerlichen Reise voller Ungewissheiten vergleichen. Kurz gesagt sind die meisten dieser Gemälde der Versuch, Gefühle ohne klare Bedeutungen zu transportieren. Falls das überhaupt möglich ist.“
ERÖFFNUNGSREDE
Marko Schacher zur Eröffnung "Atemzug" am 05. Juli 2019
in der Galerie Tobias Schrade
Eigentlich ist das, was Sie heute und hier erleben, äußerst unprofessionell. Als Galerist lädt man keinen anderen Galeristen zu seinen Ausstellungen ein, man bittet ihn vor allem nicht darum, die Eröffnungsrede zu halten, vor allem nicht zu einem Künstler, den derjenige selbst im Programm hat. Man klaut sich gegenseitig erfolgreiche Künstler, okay, aber man kommuniziert das nicht offen im Vorfeld! „Man“ macht das nicht, wir aber machen das! Warum? Weil Tobias Schrade, Martina Strilic und ich uns gegenseitig schätzen, unser gegenseitiges Programm seit vielen Jahren beobachten, nicht nur, aber vor allem auf der Art Karlsruhe, wo wir seit vielen Jahren gemeinsam versuchen, das Niveau der Halle 4 nach oben zu bringen, uns vor Ort aber auch gerne von der eigentlichen Vermittlungsarbeit ablenken. Inzwischen sind wir Freunde geworden.
Normalerweise halten Galeristen auch eine gesunde Distanz zu ihren Künstlern, bemühen sich darum, Berufliches und Privates zu trennen und sind an persönlichen Vorkommnissen nur dann interessiert, wenn sie für die Entstehung der Kunstwerke wichtig sind. Auch in dieser Hinsicht bin ich unprofessionell. Beziehungsweise: wir beide sind unprofessionell, Tes! Wir besuchen uns nicht nur gegenseitig im Atelier und in der Galerie, sondern auch auf Campingplätzen, im häuslichen Garten und bei gemeinsamen Freunden. Dank dir, Tes, habe ich so manches Vorurteil abgebaut, Dank dir fallen mir andere Hautfarben gar nicht mehr auf (wer weiß ob ich zu meiner super Familie gekommen wäre, ohne dich!?) und vor allem: dank Dir habe ich wieder einen emotionalen Zugang zur Kunst gefunden.
Auch wenn ich es bereits zwei Mal in Katalogtexten verewigt habe, ich kann nicht genug betonen, dass ich sehr froh bin, dass ich Tesfaye Urgessa im Sommer 2011 an der Stuttgarter Kunstakademie kennen gelernt habe. Seine Gemälde-Serie „Holy Criminals“ befreite damals meinen Kopf aus der Lethargie, die sich automatisch ergibt, wenn man sich als Galerist und Kunsthistoriker die Präsentationen des aktuellen Studien-Jahrgangs beim sogenannten „Rundgang“ ansieht. Vielleicht klingt das ja ein wenig übertrieben, aber Tesfayes heiligen Kriminellen gaben mir den Glauben an die Zukunft der figürlichen Malerei zurück.
Was mich sofort faszinierte, und immer noch fasziniert, war und ist die Ambivalenz der dargestellten Situationen: Damals waren es fünf nackte, mir direkt in die Augen schauende, sich offenbar auf einer Polizei-Station befindende Menschen, die leere Schilder hoch halten. Ihre Mimik und Gestik signalisieren zugleich Angst und Selbstbewusstsein.
Die individuellen Physiognomien und Körperformen waren schon damals mit wenigen, erstaunlich groben, aber gekonnt gesetzten Pinselstrichen auf die Leinwand gebracht. Ein Talent, das sich der Künstler erhalten und weiter ausgebaut hat!
Im Bild „Auszeit 1“, das Sie in der Ausstellung begrüßt, werden wir mit der – vornehm formuliert – unteren Rückansicht eines Menschen, wahrscheinlich eines Mannes, konfrontiert. Kombiniert mit zwei weiteren Figuren, von denen die eine einen Tisch mit Köpfen vor sich hat, und sich die andere vor einem lila Kopf-Regal das linke Auge reibt. Außerdem sehen wir noch einen Arm mit geballter Faust und ausgestrecktem Zeigefinger in einem gläsernen Kubus. Vielleicht ist es aber auch ein Bild im Bild? Sind wir im Museum? Dazu würden die gelbe bzw. goldene Form passen, die einem bekannten ägyptischen Fundstück ähnelt, und auch das Stahlskelett, das Picassos „Bull’s Head“-Fahrradsattel-Skulptur aus dem Jahr 1942 fragmentiert. Der in betender Haltung vornüber gebeugte Körper rechts, der immer wieder in Gemälden und Papierarbeiten des Künstlers auftaucht, könnte die vermeintliche Ehrerbietung in Museen symbolisieren. Vielleicht sind wir aber auch im Reliquien-Raum einer Kirche. Vielleicht ist der vermutete Picasso zum Kleiderhaken herabgewürdigt, während der dritte Bild-Protagonist seine Hände gefaltet hat, um Schrumpfköpfe von Heiligen adäquat zu präsentieren.
Bei dem 2015 entstandenen Gemälde „Gesicht 3“, das im ersten Raum rechts an der Wand hängt, sehen Sie ein Beispiel aus der inzwischen ab und zu wieder aufgegriffenen Phase, in der der Künstler zu Profil-Ansichten und Bild-im-Bild-Darstellungen tendiert. Wie selbstverständlich ist ein gelber Kopf als Gemälde, Erinnerungsfoto, vielleicht auch als
Spiegel in’s Bild montiert und gibt uns Rätsel auf.
Das neue Gemälde „For doubting Thomas 2“ wirkt mit seinem dunklen Hintergrund ikonenhaft. Die drei Personen könnten direkt der Bibel entsprungen sein. Daran ist auch der Titel nicht ganz unschuldig. Ob das Gemälde tatsächlich Thomas, einen der zwölf Jünger Jesu zeigt, der als der „der Ungläubige“ und „der Zweifler“ in die Religionsgeschichte eingegangen ist, als der Jünger, der am wenigsten an die Auferstehung Jesu geglaubt hat, ist unklar, möglich, aber eigentlich auch unwichtig. Wir sehen eine Figur, die uns, den Betrachter, vielleicht aber auch eine durchsichtige, vor uns oder hinter uns stehende Person mit ausgestrecktem Arm begrüßt. Vielleicht schirmt der Protagonist des Bildes aber auch seine beiden Begleiter vor uns ab, beschützt sie und ihre Unschuld vor uns?
Auch das neue Großformat „From light to sight“ ist eindeutig uneindeutig! Handelt es sich bei dem Bild-Protagonisten um den Künstler selbst, der mit segnender Geste für Licht im Durcheinander sorgt? Vor sich seinen eigenen Werkkatolog ausgebreitet, hinter sich die Körperfragmente gewordenen Schatten seiner Vergangenheit, neben sich eine farbige oder gut gebräunte Schönheit, die in nachdenklicher, vielleicht auch unterwürfiger Pose acht geschrumpfte Köpfe oder Kopf-Skulpturen zur weiteren Denk-Arbeit reicht?
Im Gemälde „Köpfe 3“ sehen wir an Keramiken, Masken und Perückenköpfe erinnernde Gesichter. Vermeintlich einfacher scheint es bei dem Gemälde „Hypnose 2“ zu sein, auf dem wir ein miteinander verschlungenes Paar sehen. Aber wozu deckt die eine Figur der anderen mit ihrer Hand das rechte Auge und die Stirn zu? Und was will uns der hypnotisierende Blick sagen? Und was zeigen die anderen Formen im Bild?
Vor und in jedem Werk spüren wir das persönliche Involviertsein des Künstlers! In das Involviertsein des Künstlers werden wiederum wir als Betrachter involviert, indem die
Figuren uns sehr oft direkt in die Augen schauen und uns zur direkten Anteilnahme auffordern. Haben wir noch die Beobachtungs-Hoheit, oder werden wir selbst beobachtet? Diese Ambivalenz prägt seit der 2014 begonnenen Serie „Die Beobachteten“ viele Szenarien
und ist auch in den neuesten Werken wie „Untitled Women 1“ und „Five Shades of Black“, dem allerersten, auf die Straße hinaus schauendem Exponat, sehr präsent.
Interessanterweise nimmt man als Betrachter von Urgessas Werken die Nacktheit der darauf
abgebildeten Personen als selbstverständlich hin. Anstößig, im sexuellen Sinne empfindet sie wahrscheinlich niemand. Die Nacktheit macht die Figuren offen und ehrlich, aber auch
verletzlich. Unbekleidet, unseren Blicken ausgesetzt, offenbaren uns die Protagonisten ihr
Innenleben, man könnte auch sagen – wie das Adrienne Braun in ihrem Artikel für die Zeitschrift „Art“ getan hat – sie offenbaren die „Verletzlichkeit der menschlichen Seele“. Dabei versuchen sie buchstäblich „Haltung“ zu bewahren und ihr Schicksal zu ertragen.
Tesfaye Urgessa Bildfindungen sind keine Selbstportraits und auch keine Portraits, auch wenn sie die eigene Person, die eigene Vergangenheit und die heutige Stellung des Künstlers in der Gesellschaft fokussieren und biografische Begegnungen reflektieren.
Sich die Frage zu stellen, inwieweit die Gemälde „afrikanisch“ sind, ist unnötig, weil sie vom Menschen, vom Mensch-Sein an sich handeln, wenngleich sie manchmal afrikanische Skulpturen und Muster zu zitieren scheinen.
Es geht Tesfaye Urgessa nicht darum, erlebte Situationen und reale Personen eins zu eins
abzubilden, sondern um das Aufgreifen und Weiterausarbeiten eines Gefühls.
Die unmittelbare Umgebung der Figuren bleibt immer unklar. Oft erinnert die Innenarchitektur an Wartezimmer oder Hotel-Interieurs, teils an Museen oder Märkte. Es sind Orte der
unverbindlichen Begegnung, Plätze, an denen sich elementare Dinge entscheiden: Sind wir
krank oder gesund, treu oder untreu, neugierig oder abgestumpft, arm oder reich?
Real daher kommende Silhouetten und Schattenwürfe, welche die Figuren dreidimensional und real erscheinen lassen, werden mit unrealistischen Größenverhältnissen und undefinierten Bildhintergründen kombiniert und konterkariert. Die meisten Kompositionen verweigern sich einer logischen, perspektivischen Aufschlüsselung.
Verschiedene Ansichten und Körper-Ausschnitte sind zum unrealistischen, aber ästhetischen Ensemble vereint. Die Schwerpunkte in den Bildern sind adäquat ausbalanciert: Unfertig wirkende Partien, dunkle und helle Farben, konkret benennbare Gegenstände und abstrakte Formenkürzel sind in einen reizvollen Dialog gesetzt.
Dass Tesfaye Urgessa Vorschläge seiner Frau Nina und Kritzeleien seiner beiden Töchter wie selbstverständlich in seine Gemälde integriert, spricht für eine gelassene Einstellung des Künstlers zur vermeintlichen Autonomie des Künstler-Genies.
Auch bei den ausgestellten Papierarbeiten beweißt der Künstler Mut zum Experiment. Zumeist handelt es sich um sogenannte „Monotypien“. Dabei bemalt der Künstler Glasscheiben mit Ölfarben, die er dann seitenverkehrt auf Papiere drückt, und anschließend partiell mit monochromen Farbflächen und Graphit-Linien akzentuiert. Durch dieses Abdruckverfahren erklären sich die winzigen Bläschen, die auf den Körpern sichtbar sind. Neben diesem ästhetischen Reiz ergibt sich auch ein inhaltlicher: Durch die Übermalung der Monografien changieren sie zwischen Unikat und Mehrfachauflage – so wie die darauf dargestellten Personen ihren Status zwischen Individuum und Bestandteil einer Gruppierung suchen.
Wenn Sie sich umsehen, merken Sie: Auf Tesfaye Urgessas Werken passt oftmals nichts so richtig zusammen: Füße, Beine, Hände, Arme, Hintern, Profil-Ansichten, Frontal-Darstellungen und Körper-Torsi sind fragmentiert, teils übermalt, ausgeblendet, verschattet und als reizvolle Bild-Puzzle wieder ineinander und aufeinander gesetzt.
Wer eindeutige Bildaussagen bevorzugt, wird mit dieser Ausstellung eventuell Schwierigkeiten haben. Wer allerdings ästhetisch ausgewogene, handwerklich perfekt gemalte und gezeichnete Figurenkompositionen voller narrativer Aura,
biografischer Hintergründe und gesellschaftskritischem Unterton mag und Künstler wie Pablo
Picasso, Francis Bacon, Lucian Freud, Maria Lassnig und Jean-Michel Basquiat achtet, wird
frohlocken.
Sie haben gesehen und gehört: Tesfaye Urgessas Bilder stellen viele Fragen. Antworten können Sie suchen oder beim Künstler erfragen. Werktitel wie „Ichundich“ deuten es aber bereits an: Wundern Sie sich nicht, wenn Sie verschiedene Antworten bekommen, je nachdem welches Ich des Künstlers sie fragen. Sie können die Fragen aber auch als Appelle an Ihr Hirn und ihr Erinnerungsvermögen einstufen und Ihre eigenen Assoziationen und Gedanken kommen und gehen lassen und in diesem Deja-Vu-Gewitter fröhlich und gestärkt umher springen.
Werktitel wie „Ichundich“ deuten es aber bereits an: Wundern Sie sich nicht, wenn Sie verschiedene Antworten bekommen, je nachdem welches Ich des Künstlers sie fragen.
So…vielen Dank für die unprofessionelle Einladung und für Ihre professionelle Aufmerksamkeit. Bitte haben Sie viel Spaß in der Ausstellung und zögern Sie nicht, ein Werk zu kaufen, wenn es Ihnen gefällt und es Ihr Geldbeutel zulässt – auch wenn Sie ab dem 13. September, wenn ich dann noch neuere Werke von Tesfaye Urgessa zusammen mit Gemälden von seiner Frau Nina Raber-Urgessa und seiner Tochter Zoe zeige, natürlich auch gern gesehene Gäste in meiner Stuttgarter Galerie sind.