Der Strom, die Nachricht, die Formation, das Bild und der Weg
- Anmerkungen zum Werk von Thomas Rissler - Nikolai B. Forstbauer, 2010, über die Arbeiten von Thomas Rissler
I. Der Strom
Der alte Gedanke, dass nur ein medial vermittelter Vorgang als Wahrheit akzeptiert wird und damit erneut zur Grundlage weiterer Vermittlung werden kann, beflügelte die Kunst früh und intensivierte spätestens seit Erfindung der Druckkunst die reflektive Annäherung künstlerischer Äußerungen an das, was wir Realität nennen. Und vergewissert man sich der Beschleunigung manipulierter Realitäten im beginnenden 20. Jahrhundert, wird noch im Rückblick verständlich, weshalb man schon vor dem millionenfachen Sterben unter austauschbarer Flagge von einem Krieg der Bilder sprach. Indes machen gerade die anerkannt inszenierten Bilder Hitlerdeutschlands in der Weise ratlos, dass sie bis heute ein mediales, ja ein multimediales Eigenleben führen. Das (inszenierte) Private der mörderischen Diktatur erweist sich bildnerisch als willkommener Gegenpart zum verursachten und geplanten Grauen.
Sind wir uns aber des Widerspruches immer bewusst, dass über Bilder des schönen Berglebens und der kindertätschelnden Schergen die Nachricht des letztgültigen Schreckens transportiert werden soll? Thomas Rissler greift diesen Widerspruch auf, wenn er Bilder des Privaten an sich ineinander- und übereinanderblendet, wenn er in seinen rechnergestützten Bildcollagen eine eigene Gegenwart schafft, in der sich das Private als immer schon historische und zugleich historisierende Figuration erweist. Entsprechend gilt: Wer sich, wie Thomas Rissler, in den Bilderwelten des Internets bewegt, weiß sich zu Hause in einem sorgfältig gesteuerten Bilderstrom, dessen vermeintliche Chaotik sich durch die historische Einbindung der einzelnen fotografischen und filmischen Figurationen aufhebt.
II. Die Nachricht
Der Titel ist die Nachricht, ist die Zusammenfassung, ist ein Titel und zugleich das Buch. "Eine Frau flieht vor einer Nachricht". Das ist es. Die Nachricht gilt Ora, sie muss kommen, Ora fühlt es, nein, sie weiß es. Die Nachricht, dass Ofer nicht zurückkommt. Ofer, ihr Sohn, ihr und Ilans Sohn, ihr und Avrams Sohn. Ilan, mit dem sie einst weniger und doch mehr verband als mit Avram. Avram, der sich selbst nicht sicher war. Damals, zur Zeit jenes anderen Krieges. War aber, ist aber nicht immer Krieg?
In David Grossmanns Roman "Eine Frau flieht vor einer Nachricht" und dessen Szenen und Bildern verschwimmen die Zeiten, aus denen die Augenblicke der körperlichen Liebe eigenwillig störrisch herausragen. Selten genug, um als häufig zu erscheinen. Lange genug her, um gegenwärtig sein zu können, vergeblich genug, um Sinn zu begründen. (...)
"Eine Frau flieht vor einer Nachricht". Das ist die Geschichte. Was bleibt ihr, außer den Bergen? Wer bleibt ihr, außer Avram, der Ofer doch nur aus der Ferne kennt. Ilan hat ihr ja alles erzählt, als Avrams Kind schon in ihr wuchs und sie doch Ilan ganz in sich wollte. Von der Einsamkeit der vielen, von der Ratlosigkeit der Entscheider, von der Zufälligkeit alles Geplanten, von der Deformation alles Lebendigen - und von den Versuchen in all dem kriegerischen Wahn das ganz andere zu denken, sich wegzuschreiben aus der Wüste, aus dem Dreck, aus dem Krieg. Wenn nur ein Stift da wäre. Retten die Worte? Ora will daran glauben. Sie schreibt nicht, sie redet, redet mit Avram auf ihrer Tour die Berge hinauf. Wenn nur Ofer sicher ist, solange sie reden. Leise zeichnet David Grossmann das Bild einer Gesellschaft, die sich in ihrer ständigen Verteidigungsbereitschaft der Grenzen zwischen zivilem und militärischem Leben nicht mehr sicher scheint, vielleicht auch solchen Grenzen gänzlich misstraut.
III. Die Formation
Das Ganze ist in den aktuellen Arbeiten von Thomas Rissler im sehr konkreten Sinn mehr als die Summe seiner Teile. Das Ganze ist das Bild, produziert aus Rasterelementen, jeweils 50 Zentimeter breit und 60 Zentimeter hoch. Aber kann man dies so überhaupt sagen? Das Ganze war ja zuvor bereits ein Bild, geschichtet, gestaucht, durchdrungen, verschlungen - ein Bild aus vielen Bildern, ein Bild aus vielen Zeiten, ein Bild aus Bildern, die auf Bilder verweisen, und damit wieder auf andere und deren Zeiten. Rissler schafft seine Ganzheit, seine Bilder, seine Szenerien auf dem Bildschirm eines Computers. Nicht zuletzt dessen Rechenkapazität entscheidet, welche Bilder erreicht werden, ausgewählt und verwendet werden können. Was Rissler aus dem Eindringen in den multimedialen Bilderberg etabliert, ist eine Formation. Aber ist es schon ein Bild?
Rissler verneint - und wagt sich an eine künstlerische Äußerungsform, die so hintersinnig wie konsequent auf die Dualität von Segen und Fluch der massenhaft herstellbaren Bildinformation verweist: den Holzschnitt. Von säuregetränktem Papier reibt Rissler seine nun bereits formatierten Formationen in Holzplatten ein. Danach wird das Weiß weggefräst - und zum Druck liegen nun Bildauszüge vor, die erst wieder ein Ganzes werden wollen. Das erste Blatt wird bearbeitet, das Schwarz des Rahmens stellt eigene Ansprüche, gibt dem Bildauszug eigenes Gewicht, und das Glas gibt der Tiefe zusätzlichen Raum. Das zweite Blatt folgt, das dritte und so weiter, bis das gewollte Ganze entsteht.
IV. Das Bild
Ein Vogel schwingt sich auf, merkwürdig aber - die Flügel wollen nicht wirklich zu seinem Körper passen. Eine Frau blickt von unten zu dem tiefschwarzen Tier auf, am rechten Bildrand eine männliche Gestalt, am linken Bildrand ein Knochenmann, wie wir ihn aus dem Kanon der altdeutschen Kunst kennen. Daneben eine Kindergestalt, die so wenig in das historische Szenario passen will, wie umgekehrt auf der anderen Bildhälfte die Männergestalt scheinbar sehr wohl die Ästhetik der Gegenwart spiegelt, während die Frauengestalt schon ihrer Haltung nach eine Figur des vergangenen Westdeutschlands ist. Wie auch der mittig gesetzte Vogel agieren die Figuren zugleich wie in einer Raumkartografie, deren Unbestimmtheit ein eigenwilliges Unbehagen provoziert.
Die Frage ist: In welcher Szenerie bewegen wir uns hier eigentlich? Zeit und Raum sind aufgehoben, und zuletzt bleibt einzig eine Erwartungshaltung, die auf 2,5 Meter Breite und 1,8 Meter Höhe Form wird. "Die Stille" hat Thomas Rissler diese aus 15 Elementen bestehende Szenerie betitelt. Im Sinn des über David Grossmanns Roman Gesagten: Der Titel ist die Nachricht, ist die Zusammenfassung, ist ein Titel und zugleich das Bild. Und doch fängt gerade hier alles erst an. Risslers "Stille" reißt uns aus derselben, treibt uns in dieselbe, lockt uns mit all unseren Sinnen mal hierhin, mal dorthin, verspricht uns im puren Schwarzweiß die tiefste Farbigkeit und provoziert in seiner Eigenständigkeit doch zugleich als Absage an die Malerei.
V. Der Weg
Zu Beginn seiner dreijährigen Arbeitszeit als Stipendiat des Landkreises Esslingen hat sich Thomas Rissler im Kulturpark Dettinger mit kleinformatigen farbigen Bildtafeln vorgestellt. Filmstills gleichend und wohl auch deshalb immer auch als real bewegte Bildfolge denkbar. Die Ausgangsfrage jener Arbeiten ist die Diskussion alles Archivierten, ist die Frage nach der eingangs formulierten These. Wird also einzig ein medial vermittelter Vorgang als Wahrheit akzeptiert? Rissler hat sich in Serien wie "Reflections" einer unmittelbaren Äußerung entzogen - und er vermeidet auch im nun gefundenen mehrteiligen Ganzen jede Definition.
Der Weg Thomas Risslers hat gleichwohl eine andere Richtung genommen. Die Befragung gefundenen und verdichteten bildnerischen Materials ist einer Bildsetzung gewichen, in der Rollwagen mit medizinischen Geräten oder Tragbahren zu Konstanten eines Bühnenlebens werden, das vordergründig apokalyptisch erscheint, sich zugleich aber als zeitlos gültige Beschwörung des Lebens erweist - und formal im besten Sinn als konzeptueller Realismus.