Warum eigentlich abstrakte Malerei? Was veranlasst einen Künstler dazu, sich vom Gegenstand zu entfernen und sich ganz der reinen Farbe und Form zu widmen? Der Grund liegt darin, dass die Farbe und deren Fassung Formen genau das ist, was jedes Bild im Kern ausmacht. Es ist die Essenz der Malerei und dies nicht nur bei abstrakten sondern auch bei gegenständlichen Bildern. Im Grunde läge es viel näher zu fragen, warum es überhaupt gegenständliche Kunst gibt. Warum sollte man irgendwelche Dinge nachmalen, die doch nie schöner und wahrer sein können als in der Natur? Die Antwort ist auch hier: weil man auch hier, am Gegenstand die Macht der Farbe und die Kraft der Form zur Entfaltung bringen kann. Man denke etwa an die wundervolle Landschaftsmalerei von den flämischen Meistern des 17. Jahrhunderts bis zu den Impressionisten: Durch die Kunstgeschichte hindurch wählten Landschaftsmaler mit Vorliebe besonders sinnlich ansprechende Szenerien: schäumende Gewässer, das funkelnde Meer, rauschende Wälder, Blumenfelder u.s.w. Ihre Auswahl trafen sie nicht zuletzt, um den virtuosen Umgang mit Farbe an den sinnlichen Reiz der dargestellten Naturereignisse unter Beweis stellen zu können: Die blau-goldenen Spiegelungen des Himmels im Meer, das geheimnisvolle Spiel von Licht und Schatten des Waldes, die lustvolle Röte des Mohnfeldes. Bei all dem handelt es sich um meisterlich in Form gebrachte Farbe.
Die gegenständliche Landschaftmalerei und die abstrakte Malerei haben also eine große Gemeinsamkeit: Es ist im Kern jeweils Malerei aus purer Lust an Form und Farbe.
Ulrich Brauchle läßt sich mit den Werken, die er in diesem Katalog vorstellt, nahtlos in diese Tradition der sinnlichen Malerei einordnen. Auch er ist ein Maler aus Lust und Leidenschaft. Seit seiner Ausbildung an der Akademie beim großen Rudolf Schoofs (wie Brauchle als Maler ebenso überzeugend wie als Zeichner) hat er eine ungeheure Erfahrung im Umgang mit Farben gesammelt und sich zu einem wahren Meister der Farbe und Komposition entwickelt. Der Künstler Brauchle beschreibt sich als „ein Bauchmensch“. Seine Arbeit ist weniger bestimmt von Kalkül und strengem Konzept als von Gefühl und Geduld. Betrachtet man seine Bilder, fällt auf, dass sie nie etwas Konstruiertes oder Gewolltes haben, selbst dort, wo man die erfahrene Hand des Künstlers spürt. Sie scheinen nicht im eigentlichen Sinne komponiert, sondern eher wie aus sich selbst heraus gewachsen. In der Tat entstehen seine Gemälde in gewissem Sinne wie von selbst:
Die Anlässe für ein Bild können sehr unterschiedliche, oft ganz schlichte und alltägliche Dinge sein: ein Gedicht, ein Lied, ein Gefühl, ein einfacher Gedanke. Irgendetwas möchte vom Künstler ins Bild gesetzt werden. Doch wie findet diese Bildidee ins Werk? Ulrich Brauchle macht der Leinwand zunächst einen Vorschlag: er setzt Farbe auf den leeren, weißen Untergrund. Nun beginnt ein geheimnisvoller Prozess. Das Werk nämlich fängt an, auf sonderbare Weise seine eigene Entstehung mit zu bestimmen. Es bedeutet dem Künstler den nächsten Gestaltungsschritt, die Veränderung der Farbe, das Setzen einer neuen Form, das Erweitern oder Ausgleichen der Komposition. Die Aufgabe des Künstlers (d.h. die Kunst im wahrsten Sinne des Wortes) ist es nun, dieses Eigenleben des Werkes künstlerisch aufzunehmen und weiterzuentwickeln. Es ist eine Mischung aus Einfall und Zufall. Der Maler agiert und reagiert gleichermaßen, er formt mit Farbe und horcht ihr gleichzeitig nach; er ist Schöpfer und Diener in einem. Bei Ulrich Brauchle entsteht ein Bild, indem er mit höchster Aufmerksamkeit so lange Formen entstehen und vergehen lässt, übermalt, verwischt, ordnet, schiebt, verwirft, verkleckert, reinigt, bedeckt, verbirgt, entdeckt, bis schließlich die Komposition ihre ganz eigene kraftvolle Ordnung gefunden hat. „Beim Malen lade ich meine Bilder auf wie eine Batterie“, sagt er. Lange kann so ein Prozess dauern, mitunter Jahre. Immer wieder muss der Künstler ein Werk hervorziehen, das noch keine Ruhe geben und weiterentwickelt werden will. Das Ergebnis solch geduldiger Reifeprozesse ist eine ungeheure malerische Vielfalt (, die er nur mit der langsam trocknenden Ölfarbe erreichen kann.) Sie reicht von fein lasierten Flächen, die den hellen Untergrund wie Licht durchbrechen lassen bis zu mächtigen Farb-Bergen, die sich als Reliefs aus dem Bild wölben. Besonders spannend wird es auf der Leinwand dort, wo diese unterschiedlichen Farb- und Strukturqualitäten aufeinander treffen, wo z.B. pastose, expressive Elemente fragilen, grafischen poetischen begegnen oder sich satte, reine Farben mit gedeckten, erdigen Tönen berühren. „Meine Bilder finden im Dazwischen statt“, so Ulrich Brauchle. Dabei tauchen in seinen Kompositionen nicht nur abstrakte Elemente sondern auch immer wieder gegenständliche Motive auf: Fenster, Wolken, Architekturen, Bäume auf, viele seiner Gemälde - So wie auch in der Auswahl die hier gezeigt wird - fügen sich insgesamt zu freien stimmungsvollen Landschaften. Aber auch die gegenständlichen Momente in Brauchles Gemälden bedeuten an sich nichts, sondern sind ein Teil einer in sich geschlossenen, ausbalancierten Bildlogik aus Farben, Bedeutungen und Stimmungen.
Der Bildkosmos von Ulrich Brauchles Gemälde ist voller lebendiger Details und malerischer Ereignisse, es ist eine Malerei, die die Lust und Leidenschaft der uralten Malereitradition überzeugend weiterführt. Aber trotz ihrer sinnlichen Kraft, Vielstimmigkeit und Offenheit ruhen die Werke erstaunlicherweise ganz in sich. Es ist die Ruhe, die Ulrich Brauchle bei jedem seiner Werke immer wieder aufs Neue sucht; eine Ruhe, die sich einstellt, wenn das Zwiegespräch zwischen Künstler und Werk, zwischen Einfall und Zufall einem Abschluss gefunden hat; wenn die Bildidee, die ganz am Anfang stand, im Werk ihre Heimat gefunden hat.